Gedicht und Anmerkung von Kakuan
Trostlos in der endlosen Wildnis dieser Welt
bahnt er sich seinen Weg durch das hohe
Gras auf der Suche nach seinem Ochsen.
Namenlosen Flüssen folgend, verirrt auf den
verschlungenen Pfaden ferner Gebirge.
Völlig erschöpft, sein Herz ist verzweifelt,
kann er den Ochsen nicht finden.
Im Abendnebel hört er nur das Zirpen
der Zikaden.
Der Ochse ist in Wirklichkeit niemals verloren gegangen. Wozu ihn also suchen? Nur wegen der Trennung von seiner wahren Natur kann er ihn nicht finden.
In der Verwirrung seiner Sinne hat er in staubiger Weite seine Spur verloren. Weit abgeirrt von seiner Heimat begegnet er einem Wirrsal von Wegen. Doch welcher ist der richtige?
Begehren nach Gewinn und Angst vor Verlust entbrennen wie aufflammendes Feuer, und Vorstellungen über Recht und Unrecht erheben sich gegeneinander wie Speerspitzen auf dem Schlachtfeld.
Kommentar von Zensho
Trostlos in der endlosen Wildnis dieser Welt bahnt er sich seinen Weg durch das hohe Gras auf der Suche nach seinem Ochsen. Im Zen-Buddhismus symbolisiert der Ochse die Wirklichkeit unseres wahren Seins. Wer sich auf die Suche nach seinem verlorenen Ochsen begibt, befindet sich auf dem Weg zu seinem wahren Selbst, seiner immanenten Buddha-Natur. Dies veranschaulichen sehr eindrücklich die zehn Ochsenbilder, indem sie den Zen-Weg zur Befreiung vom Beginn der spirituellen Suche bis zur vollkommenen Erleuchtung und dem anschließenden Wirken des Erleuchteten in der Welt aufzeigen. In allem Sein und Leben leuchtet das strahlende Licht des Einen Geistes als die Wirklichkeit unseres wahren Selbst. Es gibt nur ein einziges Sein, den Einen Geist, neben dem nichts anderes existiert, er ist die einzige Realität im tiefsten Grunde aller Lebewesen und Dinge. Wir alle leben in unmittelbarer Einheit mit diesem unserem wahren Sein – nichts könnte näher sein. Als die aus sich selbst seiende Wirklichkeit ist es im Allerinnersten eines jeden Menschen stets gegenwärtig. Es ist jene universelle, ewige Wahrheit, von der die großen erleuchteten Meister aller Religionen über die Jahrtausende hinweg gekündet haben, so dass der Mensch aus seinem Traum von Geburt und Tod erwacht und sein wahres, geburtloses, unsterbliches Selbst erfährt. Im Allgemeinen sind die Menschen aber davon überzeugt, dass ihr Leben mit der Geburt begann und mit dem Tod vergehen wird. Doch dies ist ein gewaltiger, verhängnisvoller Irrtum. Denn dies bezieht sich nur auf unseren materiellen Körper. Die Wahrheit des Zen ist jedoch, dass es ein wahres Selbst, als die ewige, zeitlose Wirklichkeit unseres wahren Seins gibt, das nicht geboren wurde und niemals stirbt.
Unsere Geburt ist nicht der Beginn des Lebens, denn unser wahres Sein geht der Geburt voraus, das
heißt – wir sind Leben. Und wenn unser wahres Sein schon vor der Geburt ist, dann wird es auch nach dem Tod sein. Die Erkenntnis dieser unserer ursprünglichen, unsterblichen Wesens-Natur ist der eigentliche Sinn unseres Lebens und somit das wichtigste Ziel unserer menschlichen Existenz. Darum ist das Innewerden und Erwachen zu unserem geburt- und todlosen wahren Selbst des Lebens höchste Erfahrung. Was du in deinem Leben auch erreichen magst, sei es Reichtum, Ansehen oder Macht, so bleibt doch immer ein Gefühl des Ungenügens und der damit verbundenen Unzufriedenheit. All diese Dinge können dich nicht wirklich erfüllen, und sie entsprechen nicht deinem eigentlichen Grundbedürfnis, denn in Wahrheit sehnst du dich nach etwas ganz anderem. Doch das, wonach du dich sehnst und was du suchst, ohne genau zu wissen, was du eigentlich suchst, lässt sich nicht, so sehr du dich auch bemühst, im Äußeren finden. Du kannst es einzig und allein nur in dir selbst finden. Denn es ist deine eigentliche Bestimmung, in dir selbst deinen allerinnersten Wesensgrund zu erfahren. Er ist stets gegenwärtig, ohne dass du dir dessen bewusst
bist. Deshalb heißt es in Zen-Meister Kakuans Anmerkung zum ersten Ochsenbild:
Der Ochse ist in Wirklichkeit niemals verloren gegangen. Wozu ihn also suchen? Nur wegen der Trennung von seiner wahren Natur kann er ihn nicht finden.
Ein alter Zen-Spruch lautet: »Wo willst du deinen Ochsen suchen, wenn du bereits schon auf dem Ochsen sitzt, den du suchst?« Deine tiefste Geist-Essenz ist von Natur aus gegeben und gehört ursprünglich nicht dem Bereich der Verwirklichung an. Wie könnte sie also verloren gehen? Nur weil du dich von der Wirklichkeit deines wahren Seins abgewandt hast, hast du deinen Geist-Ochsen im hohen Gras, im Rankengewirr deiner geistigen Verblendung, verloren. Dies zeigt auch das folgende Beispiel:
Ein Zen-Mönch kommt zu dem chinesischen Zen-Meister Joshu (9. Jh.) und fragt ihn:
»Was ist der Sinn dessen, dass unser großer Lehrer Bodhidharma (6. Jh.), der erste Patriarch des Zen, aus dem Westen gekommen ist?«
Joshu antwortet: »Eine Kuh ist aus dem Stall ausgebrochen.«
Die zehn Ochsenbilder des Zen beruhen auf genau dieser einen Situation, dass die Kuh, also der Geist-Ochse, aus dem Stall deines geistigen Gewahrseins ausgebrochen ist. Und jetzt musst du deinen Geist-Ochsen, das heißt – dein wahres Selbst – wiederfinden. Wer bin ich? Was ist mein wahres Selbst? Was ist der eigentliche Sinn des Lebens? Was geschieht mit mir im Tod? Diese Fragen bedeuten das Gleiche wie ›die Suche nach dem Geist-Ochsen‹, es ist die Suche nach der Wirklichkeit deines wahren Selbst.