Sonne und Wolken!
„Ich schaue aus dem Fenster und staune, als hätte ich noch nie Sonne und Wolken gesehen.“ Dies schreibt Christof Schlingensief in seinem bei BTB erschienen Tagebuch seiner Krebserkrankung. Er schreibt das im Angesicht seines Todes, der dann am 21.August 2010 sein Dunkel über ihn ausbreitete. Wir wissen nicht, ob er auch vorher schon über Sonne und Wolken gestaunt hat. Jedoch, so schreibt er, wohl noch nie in dieser Weise.
Das Sterben öffnet ihm jäh die Augen, den Sinn, den Geist für das Leben, für das, was jetzt gerade da ist.
Es gibt im Grunde nur eine Möglichkeit sein Leben dranzugeben, die der Hingabe.
„Dai Shi“, „Der Große Tod“.
Diese Kalligraphie von Karl Obermayer hängt in meinem Zimmer über dem Piano, nahe der kleinen Zazen-Nische. Karl hat immer betont, dass damit nicht der leibliche Tod gemeint sei sondern der Tod des „Ich“. Jedoch, wenn es ans Sterben geht, spätestens dann zeigt sich woran das Herz, der Geist hängt.
Es stellt sich sehr schnell heraus, was es bedeutet, sein Leben dranzugeben. Und es gibt keine Gewähr eines Gewinns.
Deshalb heißt es im Abendruf: „Zen ist eine Sache auf Leben und Tod!“
Das Herz Sutra, das wir stetig rezitieren, sagt es eindeutig: Wirf alles weg! Wirf auch das Wegwerfen weg. Was bleibt dann? Da gibt es nichts, was wir sagen könnten. Aber wenn wir zulassen, dass das Herz Sutra uns auf den Grund gehen darf, dann sehen wir plötzlich Sonne und Wolken.
Wirf alles weg bedeutet Hingabe. Die Dinge hingeben bedeutet sich selbst weggeben. Sich selbst weggeben bedeutet alles hingeben, an dem das Herz hängt. Bedeutet alles hinzugeben, was das Leben bisher ausgemacht hat.
Im Sommer vorigen Jahres hing mein Leben an einem Seidenfaden. Als ich mich als einen Atmenden wiederfand und Links von Rechts unterscheiden konnte, begann ich im Spitalsbett im Liegen zu „sitzen“. Stundenlang, es gab nichts anderes zu tun als zu atmen und zu „sitzen“.
Es waren jene Tage, in denen die Geister des Todes, des Komas und des Wahnsinns Wache hielten und auf ihre Gelegenheit warteten.
Jene Tage wurden aber auch zu Tagen des Hingebens und des Versöhnens.
Hingabe beinhaltet Auslassen, Leiden, Schmerzen, bedeutet sich Verabschieden. Verabschieden von meiner innig geliebten Frau Eva, von meinen erwachsenen Kindern Milena und Simon und von dessen gerade erst geborenen Sohn John. Verabschieden von meiner Mutter, meiner Schwester, meinen Freunden. Von all dem, was ich noch so gern gelebt hätte. Von allem, was mir etwas bedeutete.
Und dann ist da noch die Angst, vor allem die Angst.
Es ging tiefer, immer noch tiefer. Bis nichts mehr übrigblieb. Bis alles hinweg geschwemmt war von Tränen des Schmerzes und der Traurigkeit.
Dort, wo nichts mehr war, am tiefsten Grund, war es plötzlich gut. War Befreiung. War Verbundenheit in Allem. War plötzlich Friede. War es sanft und weich. Es war gut! Es war ein neues Leben. Es war Liebe.
Jedes Mal wenn eine Schwester, ein Pfleger oder eine Ärztin herein kam, war da plötzlich Liebe. Sie verwandelten sich, wurden sanft und behutsam und bekamen helle Augen.
Leben ist ein Geschenk auf Zeit. Es ist so fragil, so zerbrechlich, so angreifbar an unzähligen Bereichen. Und doch so zäh.
Dai Chi, der Große Tod, der große Befreier, der große Abräumer von all dem, was uns vom Leben trennt. Der Große Schenker der uns das eigentliche Leben schenkt.
Es kommt nicht darauf an, ob das biologische Leben noch ein paar Wochen oder Jahre dauert. Denn das eigentliche Leben geschieht im Geist und entfaltet sich in Gegenwärtigkeit.
Wenn wir vor das „Große Ereignis“ des eigenen Todes gestellt sind, breitet sich die „Große Möglichkeit“ der Befreiung vor uns aus.
Aber es muss nicht notwendigerweise soweit kommen. Hingabe ist jetzt, wirf alles weg, es gilt jetzt. Hingabe ist keine Tugend, keine Strategie, keine Übung. Hingabe ist eine spirituelle Praxis, eine Äußerung des Geistes. Wie das Herzensgebet, wie das Shikantaza. Hingabe ist eine Manifestation des erwachten Herzens.
Jedoch braucht es dazu Raum, also Gelegenheit. Dafür müssen wir im Weltlichen sorgen. Dafür braucht es Achtsamkeit. Der Geist offenbart sich in der Welt, im Miteinander.
Jenseits aller Konzepte, Lehren und Ideen.
Wenn wir unser Leben nicht drangeben, werden wir es nicht gewinnen. Denn es ist nicht zu verdienen, nicht zu erarbeiten, nicht zu erüben.
Das Leben ist so radikal im großen Tod verborgen, dass es sich nur in der wirklichen Hingabe erschließt.
Lasst es uns ergreifen indem wir alles wegwerfen, lasst uns vom Staunen ergriffen werden, lassen wir uns vom Leben ergreifen!
Gassho
Henry Vorpagel